Obdachlos für 20 Minuten

Obdachlos für 20 Minuten

Es ist 7:30 an einem Sonntag. Meinem Hund platzt scheinbar gleich die Blase, nachdem er mich winselnd um diese Uhrzeit weckt. Ich krieche verschlafen aus dem Bett und quäle mich das Stiegenhaus hinunter, mit dem fixen Plan danach wieder unter der Decke zu verschwinden. Draußen ist es kalt, grau und unfreundlich. Nachdem der Hund endlich sein Geschäft verrichtet hat, gehe in beschwingter Vorfreude auf mein warmes Bett zur Haustür zurück. Ich greife in meine Jackentasche und entdecke – NICHTS. Ich habe den Schlüssel oben liegen lassen. Als nächstes greife ich nach meinem Handy – welches sich ebenso oben in der Wohnung befindet. In dem Moment begreife ich: Verdammt, ich komm da jetzt nicht rein. Ich kann niemanden anrufen. Ich hab auch kein Geld dabei. Absolut gar nichts, außer meinen Hund. In meinem Kopf rennen hundert Gedanken gleichzeitig auf und ab. Mein Freund ist nach einer Nachtschicht noch mit Freunden feiern gegangen. „Geh zu einer Telefonzelle und ruf ihn an“ denke ich mir. Irgendjemand wird mir schon ein paar Cent zum Telefonieren geben. Gleich als Nächstes fällt mir ein, dass ich seit ich 14 bin keine Telefonnummern mehr auswendig kann, da mir mein smartes Phone das Tippen erspart. VERDAMMT!

Ich stehe ungefähr 10 Minuten wie erstarrt vor der Haustür und überzeuge mich davon, weder in Panik zu verfallen, noch mich weinend auf die Straße zu legen. Danach entschließe ich mich, zu einer Freundin von mir zu gehen, die nicht allzu weit von mir entfernt wohnt. Zu Fuß natürlich, da ich keinen Beisskorb dabei habe und äußerst ungern schiefe Blicke in den Öffis ernte. Dabei fühle ich mich total unwohl. Ich bin praktisch im Pyjama, ungeduscht und habe noch nicht mal einen Blick in den Spiegel geworfen. Wer weiß, vielleicht ist mein halbes Gesicht verschmiert von der nicht abgeschminkten Wimperntusche. Zumindest schaut mich keiner blöd an. Ich bin total entnervt und mein Hund führt sich auf wie eine verrückt gewordene Wildsau. Den ganzen Weg lang bete ich, dass meine Freundin eh zu Hause ist.

Glücklicherweise ist sie es und lässt mich auch herein – obwohl ich sie aus dem Bett geläutet habe. Ich bekomme Kaffee, Frühstück und kann vor allem meinen Ärger über die Situation auslassen. Ich rufe meinen Freund von ihrem Handy an, der mir verspricht mich baldigst abzuholen. Hallelujah!

Als wir endlich zu Hause ankommen stelle ich mich ewig unter eine verdammt heiße Dusche und beginne darüber nachzudenken, wie großartig es ist, ein Zuhause zu haben. Einen immer zugänglichen Ort an dem man sich zurückziehen, seinen gewohnten Tagesablauf genießen und seinen „First-World-Problems“ fröhnen kann. Ich denke darüber nach, wieviele Menschen bereits ihr Zuhause aufgrund von Krieg oder Umweltkatastrophen verloren haben. Wieviele Menschen bereits ganz plötzlich, ohne jegliche Chance auf Vorbereitung alles verloren haben. Mir wird bewusst, wie viele Dinge ich als vollkommen selbstverständlich hinnehme und dass man sich zwar beim Betrachten solcher Umstände in den Medien denkt „ach wie furchtbar“, aber dass man glücklicherweise gar keine Vorstellung davon hat, wie schrecklich sie tatsächlich sind .

In diesem Sinne – nehme ich mir auf jeden Fall vor – werde ich mir in Zukunft öfter mal bewusst machen, was für ein verdammtes Glück ich eigentlich habe. Und vielleicht eine Schlüssel-Neurose entwickeln.

Süßer Terror

Süßer Terror