Abnormal Normal

Abnormal Normal

 

Irgendwann denkt sich wahrscheinlich jeder von uns ganz leise, still und heimlich: „Bin ich eigentlich noch ganz normal?“ Die Antwort nach dem heutigen Anspruch an Normalität wäre sehr wahrscheinlich NEIN! In unseren kulturellen Breitengraden bedeutet normal sein als Kind niemals verhaltensauffällig zu sein, als Teenager hochmotivierter, sportlicher Schüler, danach ambitionierter Student, der ab und an gerne feiert – aber nicht zu viel.

Als Erwachsener sollte man eine angenehme Homöostase aus Beruf und Freizeit entwickelt haben, und zumeist ein entspanntes Lächeln auf den Lippen tragen. Die Wohnung ist immer ordentlich, wir sind immer frisch gekämmt, unser Konto ausschließlich im Plus, selbst der anstrengendste Job stresst uns nicht, und während wir mit dem Kinderwagen joggen gehen, schupfen wir mit gekonnter Leichtigkeit familiäre Tragödien. Eigentlich eine abnormale Vorstellung von „normal“, denn das Leben ist nun einmal keine Gerade. Wie sind Menschen, keine Maschinen. Gefühle und emotionale Reaktionen auf äußere Umstände zeichnen uns aus, und dazu gehören die angenehmen, sowie die unangenehmen.

Das Problem mit der Gefühlswelt ist, das sie sich meist unserer Kontrolle entzieht – und das macht uns Angst. Es macht uns größtenteils Angst, weil wir nicht aus der Reihe tanzen wollen. Obwohl das menschliche Gehirn bis heute immer weiter erforscht wird, und durchaus große wissenschaftliche Fortschritte zu verzeichnen sind, gibt es nach wie vor keine biologischen Tests in der Diagnose zu psychischen Abnormen. Es gibt kein Röntgen und kein MRT, das nachvollziehen lässt, ob und an was der Patient oder die Patientin „erkrankt“ ist. Die Grenzen zwischen „normal“ und „abnormal“ sind demnach beliebig versetzbar, unterliegen unserer subjektiven Definition – oder der Diagnose eines Arztes, wenn wir ganz mutig sind.

Wenn diese Grenzen also nicht durch wissenschaftliche Tests bestimmbar sind – wer sagt uns was normal ist, und was nicht? In erster Instanz natürlich wir selbst. Solange uns nichts als unangenehm erscheint, werden wir unser Verhalten und unsere Gefühle nicht in Frage stellen. Wir werden uns nicht täglich wundern, warum wir so gut drauf sind (Vielleicht wäre allerdings genau das sehr wichtig, um dann im Falle einer Veränderung Rückschlüsse ziehen zu können). Neben dem, ob wir unser Empfinden als angenehm oder unangenehm wahrnehmen, kommt hinzu, ob wir uns von unserem Umfeld unterscheiden. Wir sind soziale Wesen, und grundsätzlich darauf bedacht, unseren Mitmenschen zu gefallen. Das ist nicht nur das Ergebnis gesellschaftlicher Hirnwäscherei. Um die Sicherheit unserer sozialen Gefüge und deren Fortbestand zu bewahren, empfinden wir Andersartigkeit instinktiv als bedrohlich, ganz egal wie aufgeklärt wir seien mögen. Den Typen, der in der Straßenbahn beispielsweise im sekundentakt mit seinem Kopf zuckt, beobachten wir ein wenig misstrauisch. Wir können sein Verhalten nicht kategorisieren, also gehen wir lieber auf Nummer Sicher, und behalten ihn im Auge.

Während dieser Mann im Mittelalter wohl aufgrund teuflischer Besessenheit gefoltert worden wäre, sind wir heutzutage um einiges aufgeklärter – ja geradezu verständnisvoll abnormaler Verhaltensweisen oder psychischen Leiden gegenüber. Aber sind wir das wirklich? Oder entwickeln wir uns ins andere Extrem, in dem Menschen mit akribischer Genauigkeit gefiltert werden, jedes Alltagsproblem zum psychischen Leiden erklärt wird, und kein Spielraum für die für Menschen völlig normalen „Abnormalitäten“ geboten wird.

Das „Ungreifbare“ unserer Gefühlswelt und ihre komplexen Zusammenhänge macht eine ärztliche Beurteilung dementsprechend schwierig. Die Medizin braucht Systeme, um Diagnosen stellen zu können. Andernfalls müssten sich Ärzte wochenlang Zeit nehmen, ihre Patienten besser kennenzulernen. Mehr über ihren Charakter, ihre Vergangenheit und ihre gegenwärtige Situation erfahren.

Um Abhilfe für dieses Problem zu schaffen, wurde in Amerika 1952 die erste Ausgabe des DSM (DSM; englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) verfasst. Sinn und Zweck dieses Werkes war es, eine Art "Lexikon" als Hilfe zur Diagnosestellung zu schaffen. Allen Frances, Psychiater, Professor und ehemaliger Koautor des DSM-III und DSM-IV, warnt in seinem Buch „Normal“ vor den fatalen Folgen, welche diese inflationäre Diagnostik mit sich brachte. Seit der Veröffentlichung des ersten DSM wurde die Zahl der psychisch Kranken weltweit vervielfacht. Plötzlich auftretende Krankheiten, wie beispielsweise ADHS, führten dazu, das Millionen von Kindern bereits medikamentös behandelt werden.

Und warum das Alles? Auch wenn die Idee des DSM grundsätzlich bestimmt eines noblen Gedanken entsprungen ist, darf man nicht vergessen, das Psychopharmaka den Pharmaunternehmen Spitzeneinnahmen bieten.

2011 wurden in den USA mehr als 18 Milliarden Dollar für Neuroleptika ausgegeben, 11 Milliarden für Antidepressiva und knapp 8 Milliarden für ADHS-Medikamente. Die Ausgaben für Neuroleptika haben sich verdreifacht, und der Konsum von Antidepressiva ist zwischen 1988 und 2008 nahezu auf das vierfache gestiegen. Und es sind die falschen Ärzte, die diese Medikamente verschreiben. 80 Prozent der Psychopharmaka werden von Allgemeinmedizinern verschrieben. Diese sind weitgehend ungeschult, was Wirkung und vorschriftsmäßige Anwendung dieser Mittel betrifft, aber sie stehen unter starkem Druck vonseiten der Pharmavertreter und falsch informierter Patienten, denen sie nach hastigen Sieben-Minuten-Gesprächen, ohne systematische Überprüfung, derart starke Medikamente verschreiben. Darüber hinaus ist die Verteilung der Mittel völlig durcheinander geraten – normale, aber beunruhigte (oder unruhig gemachte) Gesunde werden viel zu oft therapiert, was ihnen schadet, während für jene, die wirklich krank sind und dringend eine Therapie brauchen, viel zu wenig Geld zur Verfügung steht. (Allen Frances, Normal, S. 15)

Mehr braucht diesem Auszug nicht hinzugefügt werden um zu verstehen, warum wir vielleicht gerne schneller als krank eingestuft werden, als wir es sind.

Abgesehen von finanziellen Motiven seitens der Pharmaindustrie,  sind wir zumeist auch sehr ungeduldig. Wir wollen nicht länger als zwei Wochen schlecht gelaunt sein, in stressigen Zeiten schlecht schlafen, oder einfach für unseren Geschmack zu lange nicht richtig funktionieren.

Ich denke es ist an der Zeit, uns selbst wieder mit mehr Menschlichkeit zu begegnen. Uns schlechte Launen oder Krisen zuzugestehen, und unserem äußerst robusten Körper mehr zuzutrauen – und vor allem Zeit zu lassen! In jedem Fall sollte man in erster Linie auf sich selbst hören, und ärztliche Diagnosen zumindest ausgiebig hinterfragen. Die Normalität sollte gerettet werden, anstatt einen unerreichbaren Standard festzulegen, der uns jegliche emotionale Abweichung verbietet. Immerhin lehren uns schlechte Zeiten, das Gute wieder wertzuschätzen. Sie regen uns zum Nachdenken an, bringen uns aus unserer Komfortzone, und ermöglichen persönliche Weiterentwicklung. 
 

Wo liegt meine Sch(m)erzgrenze?

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Selbstständigkeit ist Gefühlssache

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